Im Süden Deutschlands genießen Sie noch die letzten Ferientage, im Rest der Republik hat die Schule inzwischen überall wieder angefangen. Naive Geister (wie ich, bevor ich Bildungsredakteurin wurde) sind bisher davon ausgegangen, dass damit natürlich jedes schulpflichtige Kind vom ersten Schultag an in einem Klassenraum sitzen kann. Tatsächlich ist dies nicht so.
Ein Zwölfjähriger, der vor einem halben Jahr mit seiner Mutter und seinem Bruder aus der Ukraine geflüchtet ist und seitdem in Berlin lebt, steht auf einer Warteliste. Vor den Ferien hat er noch eine Grundschule besucht, aber auf der weiterführenden Schule noch keinen Platz erhalten. Für ihren Sohn sei das schlimm, hat mir seine Mutter Oksana am Telefon erzählt. Er fühle sich einsam.
Der Fall illustriert, wie sehr die Aufnahme Zehntausender ukrainischer Kinder das ohnehin belastete deutsche Schulsystem an Grenzen bringt. Schulen sollen die coronabedingten Lerndefizite ihrer Schüler auffangen, leiden unter akuter Personalnot – und müssen nun fürchten, dass Kolleginnen und Kollegen in die Schweiz abwandern (»Das ist los«).
Ein Thema, das neben Lehrermangel und Corona medial weit weniger Aufmerksamkeit findet, betrifft den Umgang mit Schülerinnen und Schülern, die nicht deutscher Herkunft sind oder nach Meinung einiger Leute nicht deutsch aussehen. Wie sich eine »rassismuskritische Schulkultur« fördern lässt, haben mir die Autorinnen Rahel El-Maawi und Mani Owzar erklärt. (»Debatte der Woche«)
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Das ist los
1. Wie ukrainische Kinder um Bildung ringen – auch in Deutschland
Mitten im russischen Angriffskrieg hat in der Ukraine für mehrere Hunderttausend Schülerinnen und Schüler ein neues Schuljahr begonnen – wie immer am 1. September, aber unter völlig veränderten Umständen. »Die einen sind weit weg von zu Hause – in anderen Regionen der Ukraine, andere in anderen Ländern«, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. In Russland ging die Schule ebenfalls los, und zwar mit einem neuen patriotischen Schulfach, wie die »taz« unter dem Titel »Gehirnwäsche ab der ersten Klasse« schreibt.
In Deutschland erreichte die Zahl ukrainischer Kinder laut Kultusministerkonferenz (KMK) mit mehr als 160.000 zuletzt einen Höchststand. Offenbar werden aber noch nicht alle regulär beschult, wie etwa Berichte aus Duisburg zeigen.
So wie der Sohn von Oksana (siehe oben) sollen im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf Dutzende ukrainische Kinder auf der Warteliste stehen, wie von ehrenamtlichen Helfern zu hören ist. Das Schulamt hat auf eine SPIEGEL-Anfrage bisher nicht geantwortet. Die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie versichert, man tue gemeinsam mit den Bezirken alles, um Kinder aufzunehmen. 50 neue Willkommensklassen seien bereits eingerichtet. Zahlen auf Wartelisten würden noch ermittelt.
Derzeit gingen mehr als 5800 ukrainische Kinder in Berliner Schulen, mehr als die Hälfte in Willkommensklassen. Oksana erzählt, ihr Sohn hat das Glück, dass er inzwischen dreimal pro Woche von einer ukrainischen Lehrerin unterrichtet wird – im Rahmen einer privaten Initiative.
2. Warum die Probleme der Schweiz für Deutschland bedrohlich – und beruhigend sein könnten
Diverse Probleme an Schulen haben damit zu tun, dass Personal fehlt. Lehrerverbände schätzten die bundesweite Lücke kürzlich auf einige Zehntausend offene Stellen. In einigen Nachbarländern, darunter Frankreich, sieht es nicht viel besser aus. In der Schweiz ist der Lehrermangel so groß, dass auch Menschen ohne abgeschlossenes Studium eingestellt werden. Außerdem wirbt man gezielt um deutsche Lehrkräfte, wie die »SZ« berichtet.
Für die deutschen Kultusminister dürften die Probleme der Schweiz bedrohlich und beruhigend zugleich sein, heißt es in dem Text. Bedrohlich, weil der zahlungskräftige Nachbar im Südwesten den Wettbewerb um Personal noch verschärfe, den die Länder sich ja schon untereinander lieferten. Beruhigend, weil offensichtlich nicht nur die deutsche Bildungspolitik an der Aufgabe scheitere, so viele Lehrkräfte auszubilden, wie gebraucht werden.
3. Welche Schwachstellen das Corona-Aufholprogramm hat
Für zwei Monate war mein Kollege Armin Himmelrath Stipendiat am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und erstellte eine Studie zu den Corona-Aufholprogrammen in Europa. Sein Fazit: Die Summe von zwei Milliarden Euro, die Bund und Länder dafür ausgeben, »klingt nach viel, ist im europaweiten Vergleich aber nicht mal Mittelmaß«. Der Text ist hier nachzulesen.
WZB-Forscher wie Marcel Helbig haben ebenfalls eine kritische Analyse vorgelegt, mit Blick auf die Aktivitäten der 16 Bundesländer. Weitgehend offen ist beim Aufholprogramm demnach, wie eine Überforderung der schwächsten Schüler verhindert werden soll, »die nicht nur den verlorenen Stoff aufholen, sondern auch mit anderen Schülern Schritt halten und gleichzeitig den neu auflaufenden Stoff im laufenden Schuljahr bewältigen sollen«. Eine Analyse zum Aufholprogramm von meiner Kollegin Miriam Olbrisch finden Sie hier.
Und sonst noch?
Neulich habe ich ein Regal bei »Ebay« verschenkt. Abgeholt wurde es von einer Lehrerin, die es für ihr Klassenzimmer haben wollte. Dass Lehrkräfte alle möglichen Schulmaterialien selbst beschaffen – und bezahlen, berichtet die »FAZ«. Einige investieren demnach pro Schuljahr vierstellige Summen. In der Nähe von San Francisco in den USA haben Lehrerinnen und Lehrern noch ganz andere Geldnöte. Weil die Mieten zu hoch waren, kündigten sie ihre Jobs. Nun sollen Eltern helfen.
Debatte der Woche
»Rassistische Beleidigungen sind nur die Spitze des Eisbergs«
Frankreich hat seit mehreren Wochen den ersten Schwarzen Bildungsminister: Pap Ndiaye. Er träume davon, wird Ndiaye in der »taz« zitiert, dass eines Tages die Hautfarbe nicht mehr zählt als die Augenfarbe, »aber heute ist dies nicht so«. Der Minister prangert strukturellen Rassismus im Land an; auch im Bildungssystem. Im deutschsprachigen Raum machen Schülerinnen und Schüler ebenfalls immer wieder rassistische Erfahrungen, heißt es in dem Buch »No to racism – Grundlagen für eine rassismuskritische Schulkultur«, das im Herbst erscheint. Zu den Autorinnen gehören die Dozentin Rahel El-Maawi und Mani Owzar, Lehrkraft an einer Berufsschule. Beide leben in der Schweiz.
SPIEGEL: Was bedeutet »rassismuskritische Schulkultur«?
Rahel El-Maawi: Rassismus soll thematisiert werden. Was Kinder erleben, muss ernst genommen und darf nicht banalisiert werden. Rassistische Ausdrücke, Beleidigungen oder Streitereien auf dem Schulhof sind oft nur die Spitze des Eisbergs. Das wahre Problem liegt im strukturellen Rassismus, der nicht immer einfach zu erkennen ist.
SPIEGEL: Viele Lehrkräfte gehen davon aus, dass zumindest sie selbst nicht rassistisch handelten.
Mani Owzar: Wir werden alle rassistisch sozialisiert, ob wir wollen oder nicht. Das stammt aus der Zeit des Kolonialismus, als Menschen in Rassen eingeteilt und nach ihrer Hautfarbe bewertet wurden. Diese Einteilung prägt unser Denken bis heute. Das bedeutet nicht, eine rassistische Einstellung zu haben. Es geht um bestimmte Bilder im Kopf, um Stereotype, die wir bei unserer Arbeit beziehungsweise in unserem Unterricht unbewusst reproduzieren.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Owzar: Zu einem Kind, dessen Eltern aus Lateinamerika stammen, wird etwa gesagt: ›Du kannst bestimmt gut tanzen. Das hast du im Blut.‹ Das klingt nach einem nett gemeinten Lob, ist aber eine rassistische Zuschreibung. Oder Kindern wird aufgrund ihrer Herkunft unterstellt, sie würden es mit Pünktlichkeit nicht so genau nehmen oder könnten weniger gute schulische Leistungen erbringen. Das ist diskriminierend und verletzend.
El-Maawi: Auch in Schulbüchern finden sich Stereotype: Nicht weiße Kinder sind oft barfuß dargestellt oder tragen traditionelle Trachten. Schwarze Menschen werden beim illegalen Grenzübertritt gezeigt, Weiße, wie sie im Anzug ins Büro gehen. Solche Bilder führen dazu, dass Kindern aufgrund ihres Aussehens ein bestimmter Platz in der Gesellschaft zugewiesen wird, und zwar allen Kindern. Die einen lernen, dass sie mehr wert sind als andere, die anderen lernen, dass sie weniger wert sind. So zementiert sich Ungleichheit. Das muss aufhören.
SPIEGEL: Wie kann sich etwas ändern?
Owzar:Es geht nicht darum, einer Person vorzuwerfen, sie sei rassistisch und ein schlechter Mensch. Im besten Fall ist ein offenes Gespräch möglich.
El-Maawi: Das ganze Bildungssystem muss sich auf den Weg machen, um diskriminierungsarm zu werden. Einzelne können bei sich anfangen. Bisher reagieren Menschen oft mit Abwehr, wenn andere rassistisches Verhalten bei ihnen erkennen. Sie fühlen sich ohnmächtig. Wichtig wäre, dass es einen Lernwillen gibt, dass jemand sagt, mir ist etwas passiert, das mir unangenehm ist. Das wäre ein super Absprungmoment, um Rassismus zu diskutieren und zu erkennen, was sich ändern lässt, und zwar ohne Scham, dafür mit einem Ziel – einer rassismusarmen Schule. Mit unserem Buch möchten wir einen Beitrag zu diesem Austausch leisten.
Gut zu wissen
Um kulturelle Vielfalt in (Kinder-) Büchern zu fördern, hat die Schauspielerin, Sprecherin und Autorin Dayan Kodua einen Verlag gegründet. Nach zwei Kinderbüchern heißt das neueste Werk für Jugendliche und Erwachsene »My Black Skin. Lebensreisen« – eine lesenswerte Sammlung von Kurzbiografien Schwarzer Menschen.
Vielen Dank für Ihr Interesse. Wenn Ihnen ein Bildungsthema unter den Nägeln brennt, schreiben Sie gern an bildung@spiegel.de. Wir freuen uns.