06.09.2022 Wieso rassistische Beleidigungen nur die Spitze des Eisbergs sind

Im Süden Deutschlands genießen Sie noch die letzten Ferien­tage, im Rest der Republik hat die Schule in­zwischen über­all wieder an­ge­fangen. Naive Geister (wie ich, bevor ich Bildungs­redakteurin wurde) sind bis­her davon aus­ge­gangen, dass damit natürlich jedes schul­pflichtige Kind vom ersten Schul­tag an in einem Klassen­raum sitzen kann. Tat­sächlich ist dies nicht so.

Ein Zwölf­jähriger, der vor einem halben Jahr mit seiner Mutter und seinem Bruder aus der Ukraine geflüchtet ist und seit­dem in Berlin lebt, steht auf einer Warte­liste. Vor den Ferien hat er noch eine Grund­schule besucht, aber auf der weiter­führenden Schule noch keinen Platz erhalten. Für ihren Sohn sei das schlimm, hat mir seine Mutter Oksana am Telefon erzählt. Er fühle sich einsam.

Der Fall illustriert, wie sehr die Auf­nahme Zehn­tausender ukrainischer Kinder das ohne­hin belastete deutsche Schul­system an Grenzen bringt. Schulen sollen die corona­bedingten Lern­defizite ihrer Schüler auf­fangen, leiden unter akuter Personal­not – und müssen nun fürchten, dass Kolleg­innen und Kollegen in die Schweiz abwandern (»Das ist los«).

Ein Thema, das neben Lehrer­mangel und Corona medial weit weniger Auf­merk­sam­keit findet, betrifft den Um­gang mit Schüler­innen und Schülern, die nicht deutscher Her­kunft sind oder nach Meinung einiger Leute nicht deutsch aus­sehen. Wie sich eine »rassismus­kritische Schul­kultur« fördern lässt, haben mir die Autor­innen Rahel El-Maawi und Mani Owzar erklärt. (»Debatte der Woche«)

Wie immer freuen wir uns, wenn Sie Lob, Kritik und Themen-Anregungen per E-Mail an bildung@spiegel.de schicken. Genießen Sie die letzten Sommer­tage! (Im Super­markt gibt es bereits Spekulatius.)

Workshop: Diskriminierende Sprache und Narrative
Welche diskriminierenden Narrative gibt es in der Medien­bericht­erstattung und wie können Schüler:in­nen dafür sensi­bilisiert werden? Unsere jungen Medien-Fellows haben einen medien­päda­gogischen Work­shop zu diesem Thema entwickelt, der für alle Schul­formen ab Klasse 9 geeignet ist.

Das ist los

1. Wie ukrainische Kinder um Bildung ringen – auch in Deutschland

Mitten im russischen Angriffs­krieg hat in der Ukraine für mehrere Hundert­tausend Schüler­innen und Schüler ein neues Schul­jahr begonnen – wie immer am 1. September, aber unter völlig ver­änderten Um­ständen. »Die einen sind weit weg von zu Hause – in anderen Regionen der Ukraine, andere in anderen Ländern«, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj. In Russ­land ging die Schule eben­falls los, und zwar mit einem neuen patri­otischen Schul­fach, wie die »taz« unter dem Titel »Gehirn­wäsche ab der ersten Klasse« schreibt.

In Deutschland erreichte die Zahl ukrainischer Kinder laut Kultus­minister­konferenz (KMK) mit mehr als 160.000 zu­letzt einen Höchst­stand. Offen­bar werden aber noch nicht alle regulär beschult, wie etwa Berichte aus Duisburg zeigen.

So wie der Sohn von Oksana (siehe oben) sollen im Berliner Bezirk Charlotten­burg-Wilmers­dorf Dutzende ukrainische Kinder auf der Warte­liste stehen, wie von ehren­amt­lichen Helfern zu hören ist. Das Schul­amt hat auf eine SPIEGEL-Anfrage bisher nicht ge­ant­wortet. Die Senats­verwaltung für Bildung, Jugend und Familie versichert, man tue gemein­sam mit den Bezirken alles, um Kinder auf­zu­nehmen. 50 neue Will­kommens­klassen seien bereits ein­ge­richtet. Zahlen auf Warte­listen würden noch ermittelt.

Derzeit gingen mehr als 5800 ukrainische Kinder in Berliner Schulen, mehr als die Hälfte in Will­kommens­klassen. Oksana erzählt, ihr Sohn hat das Glück, dass er in­zwischen drei­mal pro Woche von einer ukrainischen Lehrerin unter­richtet wird – im Rahmen einer privaten Initiative.

2. Warum die Probleme der Schweiz für Deutsch­land bedrohlich – und beruhigend sein könnten

Diverse Probleme an Schulen haben damit zu tun, dass Personal fehlt. Lehrer­verbände schätzten die bundes­weite Lücke kürzlich auf einige Zehn­tausend offene Stellen. In einigen Nach­bar­ländern, darunter Frank­reich, sieht es nicht viel besser aus. In der Schweiz ist der Lehrer­mangel so groß, dass auch Menschen ohne ab­ge­schlossenes Studium ein­ge­stellt werden. Außer­dem wirbt man gezielt um deutsche Lehr­kräfte, wie die »SZ« berichtet.

Für die deutschen Kultus­minister dürften die Probleme der Schweiz bedrohlich und beruhigend zu­gleich sein, heißt es in dem Text. Bedrohlich, weil der zahlungs­kräftige Nach­bar im Süd­westen den Wett­bewerb um Personal noch ver­schärfe, den die Länder sich ja schon unter­ein­ander lieferten. Beruhigend, weil offen­sicht­lich nicht nur die deutsche Bildungs­politik an der Auf­gabe scheitere, so viele Lehr­kräfte aus­zu­bilden, wie gebraucht werden.

3. Welche Schwach­stellen das Corona-Aufhol­programm hat

Für zwei Monate war mein Kollege Armin Himmelrath Stipendiat am Wissen­schafts­zentrum Berlin (WZB) und erstellte eine Studie zu den Corona-Auf­hol­programmen in Europa. Sein Fazit: Die Summe von zwei Milliarden Euro, die Bund und Länder dafür aus­geben, »klingt nach viel, ist im europa­weiten Vergleich aber nicht mal Mittel­maß«. Der Text ist hier nach­zu­lesen.

WZB-Forscher wie Marcel Helbig haben eben­falls eine kritische Analyse vor­ge­legt, mit Blick auf die Aktivitäten der 16 Bundes­länder. Weit­gehend offen ist beim Auf­hol­programm dem­nach, wie eine Über­forderung der schwächsten Schüler ver­hindert werden soll, »die nicht nur den ver­lorenen Stoff auf­holen, sondern auch mit anderen Schülern Schritt halten und gleich­zeitig den neu auf­laufenden Stoff im laufenden Schul­jahr bewältigen sollen«. Eine Analyse zum Auf­hol­programm von meiner Kollegin Miriam Olbrisch finden Sie hier.

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Und sonst noch?

Neulich habe ich ein Regal bei »Ebay« verschenkt. Ab­ge­holt wurde es von einer Lehrer­in, die es für ihr Klassen­zimmer haben wollte. Dass Lehr­kräfte alle möglichen Schul­materialien selbst beschaffen – und bezahlen, berichtet die »FAZ«. Einige inves­tieren dem­nach pro Schul­jahr vier­stellige Summen. In der Nähe von San Francisco in den USA haben Lehrer­innen und Lehrern noch ganz andere Geld­nöte. Weil die Mieten zu hoch waren, kündigten sie ihre Jobs. Nun sollen Eltern helfen.

Debatte der Woche

»Rassistische Beleidigungen sind nur die Spitze des Eisbergs«

Frankreich hat seit mehreren Wochen den ersten Schwarzen Bildungs­minister: Pap Ndiaye. Er träume davon, wird Ndiaye in der »taz« zitiert, dass eines Tages die Haut­farbe nicht mehr zählt als die Augen­farbe, »aber heute ist dies nicht so«. Der Minister prangert strukturellen Rassismus im Land an; auch im Bildungs­system. Im deutsch­sprachigen Raum machen Schüler­innen und Schüler eben­falls immer wieder rassistische Erfahrungen, heißt es in dem Buch »No to racism – Grund­lagen für eine rassismus­kritische Schul­kultur«, das im Herbst erscheint. Zu den Autor­innen gehören die Dozentin Rahel El-Maawi und Mani Owzar, Lehr­kraft an einer Beruf­sschule. Beide leben in der Schweiz.

SPIEGEL: Was bedeutet »rassismus­kritische Schul­kultur«?

Rahel El-Maawi: Rassismus soll thematisiert werden. Was Kinder erleben, muss ernst genommen und darf nicht banali­siert werden. Rassistische Aus­drücke, Beleidigungen oder Streitereien auf dem Schul­hof sind oft nur die Spitze des Eis­bergs. Das wahre Problem liegt im strukturellen Rassismus, der nicht immer einfach zu erkennen ist.

SPIEGEL: Viele Lehr­kräfte gehen davon aus, dass zumindest sie selbst nicht rassistisch handelten.

Mani Owzar: Wir werden alle rassistisch sozialisiert, ob wir wollen oder nicht. Das stammt aus der Zeit des Kolonial­ismus, als Menschen in Rassen eingeteilt und nach ihrer Hautfarbe bewertet wurden. Diese Einteilung prägt unser Denken bis heute. Das bedeutet nicht, eine rassistische Einstellung zu haben. Es geht um bestimmte Bilder im Kopf, um Stereo­type, die wir bei unserer Arbeit beziehungs­weise in unserem Unter­richt unbewusst reproduzieren.

SPIEGEL: Zum Beispiel?

Owzar: Zu einem Kind, dessen Eltern aus Latein­amerika stammen, wird etwa gesagt: ›Du kannst bestimmt gut tanzen. Das hast du im Blut.‹ Das klingt nach einem nett gemeinten Lob, ist aber eine rassistische Zu­schreibung. Oder Kindern wird auf­grund ihrer Her­kunft unter­stellt, sie würden es mit Pünkt­lich­keit nicht so genau nehmen oder könnten weniger gute schulische Leistungen erbringen. Das ist diskriminierend und verletzend.

El-Maawi: Auch in Schul­büchern finden sich Stereo­type: Nicht weiße Kinder sind oft bar­fuß dar­ge­stellt oder tragen traditionelle Trachten. Schwarze Menschen werden beim illegalen Grenz­über­tritt gezeigt, Weiße, wie sie im Anzug ins Büro gehen. Solche Bilder führen dazu, dass Kindern auf­grund ihres Aus­sehens ein bestimmter Platz in der Gesell­schaft zu­ge­wiesen wird, und zwar allen Kindern. Die einen lernen, dass sie mehr wert sind als andere, die anderen lernen, dass sie weniger wert sind. So zementiert sich Un­gleich­heit. Das muss aufhören.

SPIEGEL: Wie kann sich etwas ändern?

Owzar:Es geht nicht darum, einer Person vor­zu­werfen, sie sei rassistisch und ein schlechter Mensch. Im besten Fall ist ein offenes Gespräch möglich.

El-Maawi: Das ganze Bildungs­system muss sich auf den Weg machen, um dis­krimi­nierungs­arm zu werden. Einzelne können bei sich an­fangen. Bisher reagieren Menschen oft mit Abwehr, wenn andere rassistisches Ver­halten bei ihnen erkennen. Sie fühlen sich ohn­mächtig. Wichtig wäre, dass es einen Lern­willen gibt, dass jemand sagt, mir ist etwas passiert, das mir un­an­genehm ist. Das wäre ein super Ab­sprung­moment, um Rassismus zu diskutieren und zu erkennen, was sich ändern lässt, und zwar ohne Scham, dafür mit einem Ziel – einer rassismus­armen Schule. Mit unserem Buch möchten wir einen Bei­trag zu diesem Aus­tausch leisten.

Gut zu wissen

Um kulturelle Viel­falt in (Kinder-) Büchern zu fördern, hat die Schau­spielerin, Sprecherin und Autorin Dayan Kodua einen Verlag gegründet. Nach zwei Kinder­büchern heißt das neueste Werk für Jugend­liche und Erwachsene »My Black Skin. Lebens­reisen« – eine lesens­werte Sammlung von Kurz­bio­grafien Schwarzer Menschen.

Vielen Dank für Ihr Interesse. Wenn Ihnen ein Bildungs­thema unter den Nägeln brennt, schreiben Sie gern an bildung@spiegel.de. Wir freuen uns.

Workshop: Schneller als der Algorithmus
Wie funktionieren Algorithmen und welchen Einfluss nehmen sie unsere Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse? Unsere jungen Medien-Fellows haben einen medienpädagogischen Workshop zu diesem Thema entwickelt, der für alle Schulformen ab Klasse 9 geeignet ist. 

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