10.05.2022 Inklusion ist nicht in

Warum fahren Lehrkräfte einer Online-Schule mit Mietwagen durch NRW? Und warum ist Chancengleichheit auch für Förderschüler ein leeres Versprechen? Das und mehr in unserem Bildungsnewsletter.

Der Behindertenrechtsaktivist Raúl Krauthausen hatte da kürzlich so eine Idee: »Wir könnten auch mal ›In-klusion‹ schreiben, weil sie so krass angesagt sein sollte«, schlug er auf seinem Instagram-Account vor . Im Schulalltag ist die Wokeness aber noch nicht angekommen. 

Stattdessen: Tränen, Tränen, Tränen. »Wir haben viel geheult«, hat mir Schulleiterin Sarah Lichtenberger von der Web-Individualschule erzählt . Der Grund: »120 behinderte Kinder sind dem Land NRW organisatorisch zu aufwendig«, sagt Lichtenberger sarkastisch. Die Schule hatte einen Rechtsstreit darüber verloren , wo die Abschlussprüfungen stattfinden, die von externen Prüfern abgenommen werden müssen.

An ihrer Schule mit Sitz in Bochum werden bereits seit 2002 Kinder und Jugendliche aus dem ganzen Bundesgebiet unterrichtet, die wegen schwerer Erkrankungen oder Behinderungen von der Schulpflicht befreit sind – sie bekommen online Einzelunterricht. Die extern abgenommenen Abschlussprüfungen fänden seit 19 Jahren zentral in Bochum statt, damit die Lehrkräfte ihre Schülerinnen und Schüler begleiten können. Etwa weil die Jugendlichen eine schwere Autismusstörung haben oder nach einem Amoklauf an ihrer Schule kein Schulgebäude mehr betreten können, wie Lichtenberger erklärt.

Da die Zahl der Prüflinge zuletzt gestiegen ist, wollte das Land die Haupt- und Realschulprüfungen nicht mehr zentral an einem Ort anbieten: Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) hatte in dem Streit moniert, dass die Bezirksregierung Arnsberg »nicht dauerhaft Abschlussprüfungen für das gesamte Bundesgebiet organisieren« könne .

Letztlich meldeten sich von den 120 potenziellen Prüflingen nur gut 60 zur Prüfung an, »so viele wie bereits in den Vorjahren«, sagt Lichtenberger. Trotzdem blieb es dabei, dass die Abschlusskandidaten für die Prüfungen auf 16 Standorte im Bundesland verteilt werden sollten.

Laut Schulleiterin Lichtenberger haben ihre Lehrerinnen und Lehrer nun Teams gebildet und fahren mit Mietwagen durchs Land, damit sie ihre Schützlinge wie versprochen bei den Prüfungen begleiten. Allerdings könnten sich die Lehrer nicht vierteilen, weshalb nun nicht jedes Kind seine eigentliche Bezugsperson dabeihabe. Das sei etwa für Autisten ein ernsthaftes Problem.

Auf die NRW-Bildungsministerin ist Lichtenberger ziemlich wütend – und ist damit nicht allein, wie meine Kollegin Miriam Olbrisch in ihrem Porträt über Gebauer feststellt (»Das ist los«). In derselben Rubrik verlasse ich das Tal der Tränen aber erst mal, eine Stuttgarter Kollegin hat nämlich von einem gelungenen Beispiel für Inklusion berichtet.

Am Ende des Newsletters geht es dann noch mal analytisch um Teilhabe. Die Frankfurter Professorin Vera Moser zeigt in ihrem Gastbeitrag anhand von Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf auf, was Deutschland für mehr Chancengleichheit im Bildungssystem braucht. (»Debatte der Woche«)

Was beschäftigt Sie als Lehrerin, Schüler, Mutter oder Vater im Schulalltag? Ich freue mich, wenn Sie uns an bildung@spiegel.de  schreiben.

Das Team von »Kleine Pause«

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Das ist los

1. Ein Avatar im Klassenzimmer

Die Viertklässlerin PJ hat Leukämie und muss sich isolieren. Am Unterricht könne sie dank eines kleinen Roboters trotzdem teilnehmen, berichtet die »Stuttgarter Zeitung«: Seit Februar nimmt PJ als erstes Stuttgarter Kind per Avatar am Unterricht teil. Der Roboter AV1 des norwegischen Start-ups No Isolation wurde bereits vor sieben Jahren entwickelt und in verschiedenen Schulen eingesetzt – laut Unternehmensbroschüre hat er weltweit bisher 1600 Kinder und Jugendliche unterstützt. »Die wichtigsten Pluspunkte gegenüber der Teilnahme per normalem Video-Call: Das Kind kann die Blickrichtung der Kamera verändern, sich über ein Leuchtsignal melden und seine Stimmung zeigen – ob die Augen glücklich, traurig oder nachdenklich schauen sollen. Zudem sieht der Roboter noch knuffig und futuristisch zugleich aus«, schreibt die Kollegin Viola Volland .

2. Bildungspolitik im NRW-Landtagswahlkampf

Bildungspolitik kann durchaus unterhaltsam sein. »Kinder rauf aufs Hamsterrad zur Stromerzeugung«, fordert Die PARTEI auf die Frage, ob Schulen klimaneutral sein müssen. Die Landesschüler*innenvertretung Nordrhein-Westfalen hat vor der Landtagswahl am kommenden Sonntag acht Parteien um ihre Position zu bildungspolitischen Fragen gebeten, die den Schülerinnen und Schülern wichtig seien. Angelehnt an den offiziellen Wahl-O-Mat  der Bundeszentrale für politische Bildung können Sie im »Schul-o-Mat«  die Positionen von CDU, SPD, Bündnis 90/ Die Grünen, DIE LINKE, Die PARTEI und den Piraten mit Ihrer eigenen vergleichen. »FDP und AfD haben keine Antworten eingereicht«, heißt es auf der Website der Schülervertreter.

Weniger interaktiv, in den Antworten aber etwas ausführlicher, hat auch die Landeselternschaft der Gymnasien in NRW (LEGym) die Bildungspolitik in den Fokus genommen: »Mit den aus unserer Sicht drängendsten Fragen hat sich unser Verband an unterschiedliche Parteien des Landtages gewandt und parallel eigene Antworten formuliert.« Das Ergebnis finden Sie hier. 

Meine Kollegin Miriam Olbrisch hat sich die Bildungspolitik der amtierenden NRW-Ministerin vorgenommen – und analysiert, Yvonne Gebauer sei »Hendrik Wüsts größtes Problem« . Mit ihrem Zickzackkurs in der Pandemie habe die FDP-Ministerin Eltern, Lehrer und Schüler aufgebracht – und gefährde damit auch die Wiederwahl der schwarz-gelben Koalition von Ministerpräsident Wüst.

3. Die vier Gründe, warum das Corona-Aufholprogramm für Schulen verpuffen könnte

Viel Geld, wenig Plan: Zwei Milliarden Euro will der Bund ausgeben, um Kinder mit Lernlücken nach der Pandemie zu unterstützen. Doch die Hilfe kommt nicht in Gang. Kollegin Olbrisch hat analysiert, woran das liegt.

 

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Und sonst noch?

Hamburg glaubt an gemeinsamen Religionsunterricht für alle. Die Stadt will Kinder nicht mehr nach Konfessionen aufteilen, sondern gemeinsam unterrichten. »Dieser bundesweit einmalige Unterricht trennt nicht, sondern führt zusammen und ermöglicht damit den Dialog von Kindern und Jugendlichen unterschiedlicher Glaubensrichtungen und Weltanschauungen«, sagt Schulsenator Ties Rabe.

Zahl der Woche

10 bis 13

Bis zum Ende der Grundschule haben Schülerinnen und Schüler während der pandemiebedingten Schulschließungen Lernrückstände im Fach Mathematik aufgebaut, die 10 bis 13 Wochen entsprechen. Das geht aus dem MINT-Nachwuchsbarometer hervor, das Ende April veröffentlicht wurde .

Workshop: Schneller als der Algorithmus
Wie funktionieren Algorithmen und welchen Einfluss nehmen sie unsere Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse? Unsere jungen Medien-Fellows haben einen medienpädagogischen Workshop zu diesem Thema entwickelt, der für alle Schulformen ab Klasse 9 geeignet ist. 

Debatte der Woche

Chancengleichheit – das leere Versprechen des deutschen Schulsystems

Chancengleichheit? Gibt’s im deutschen Schulsystem nicht. Stattdessen sei es ein reines Glücksspiel, wie gut der Unterricht ausfällt – abhängig von der einzelnen Schule und manchmal sogar von Lust, Laune und Fähigkeiten einzelner Lehrkräfte, schreibt die Frankfurter Bildungsforscherin Vera Moser in einem Gastbeitrag für SPIEGEL.de und zeigt das an der Digitalisierung und den fehlenden Standards für Kinder mit Förderbedarf auf.

»Seit der ersten PISA-Studie 2000 wiederholt sich der Befund, dass knapp ein Viertel der 15-Jährigen die untere Kompetenzstufe im Bereich von Lese-, mathematischen und naturwissenschaftlichen Leistungen nicht erreicht. Und diese dramatische Zahl deckt noch nicht einmal die ganze Misere ab: Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf werden dabei in der Regel gar nicht mitgerechnet – immerhin knapp 10 Prozent eines Jahrgangs«, schreibt die Professorin für Inklusionsforschung an der Goethe-Universität Frankfurt.

Sie fordert Mindeststandards, der Ruf danach sei bisher ins Leere gegangen – »nach wie vor kann eine Schule sich als inklusiv, digital oder sonst wie labeln, ohne dass hierfür notwendige und nachweisliche Kriterien erforderlich sind.«

Dem verfassungsrechtlichen Gebot eines Mindeststandards schulischer Bildung müsse eine nationale Qualitätsdebatte um unterrichtliche Standards beigestellt werden, schreibt Vera Moser. Ihren Gastbeitrag in ganzer Länge lesen Sie hier.

Und wie ist Ihre Meinung? Schreiben Sie uns gern an bildung@spiegel.de 

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