26.04.2022 Der Schrecken von Erfurt - 20 Jahre danach

Das Gutenberg-Gymnasium in Erfurt gedenkt der Menschen, die beim Amoklauf ums Leben kamen. Wie geht es zwei Betroffenen heute?

Heute vor 20 Jahren hat ein Amokläufer 16 Menschen am Erfurter Gutenberg-Gymnasium erschossen.

Eine Bekannte von mir war damals in der Schule. Ihr Lehrer wunderte sich über den Krach auf dem Gang. Als er die Tür öffnete, um nachzuschauen, woher das Getöse kommt, wurde er erschossen. Die Schülerinnen und Schüler versteckten sich im Physik-Vorbereitungsraum, so erzählt es mir die Mutter der damaligen Schülerin am Telefon.

Sie war damals Elternsprecherin an der Schule und kannte viele Lehrerinnen und Lehrer. Ihre Tochter habe sie damals angerufen und gesagt: »Ich habe Todesangst.« Sie, die Mutter, habe sich gefragt, was sie machen sollte, wen sie anrufen könnte. »Ich war nicht mehr ich selbst«, sagt sie. Sie habe verzweifelt versucht, ihren Ehemann zu erreichen, der aber nicht ans Telefon gegangen sei, weil er an der Uni ein Seminar gegeben habe.

Sie wollte sich damals nicht in die Menschenmassen vor die Schule stellen, sich nicht verrückt machen lassen. Später habe sie ihre Tochter auf dem Sportplatz in die Arme geschlossen. Dankbar, dass sie noch lebte. Ihr Chef habe ihr eine Woche freigegeben, damit sie sich um ihre Tochter kümmern konnte.

»Der Amoklauf beschäftigt die Familie noch immer«, sagt sie. »Meine Tochter geht jedes Jahr am 26. April in die Kirche und zündet eine Kerze an.« Sie könne es nur schwer aushalten, wenn Feuerwerkskörper explodierten. »Das verlässt dich nicht«, sagt die Mutter. Die Tochter habe eine Therapie gemacht, der Amoklauf habe die Klasse zusammengeschweißt.

Wie sehr beschäftigt Sie dieses Thema? Welche anderen Fragen bewegen Sie in diesen Tagen? Wir freuen uns über Anregungen, Kritik und Meinungen per E-Mail an bildung@spiegel.de .

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Das ist los

1. Der 20. Jahrestag des Amoklaufs am Erfurter Gutenberg-Gymnasium

An diesem Dienstag gedenkt das Erfurter Gutenberg-Gymnasium der Opfer des Amoklaufs vom 26. April 2002. Hier finden Sie die Titelgeschichte, die damals im SPIEGEL erschien.

Die Tat habe das Land bis zum heutigen Tag verändert, sagte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) vor dem 20. Jahrestag . »Den Schmerz und die Fassungslosigkeit werden wir alle für immer in unseren Herzen tragen.«

Am heutigen Gedenktag sollen die Opfer laut Schulleiterin Christiane Alt im Mittelpunkt stehen. Nach 20 Jahren gibt es mit 13 verbliebenen Lehrkräften von damals nur noch wenige Zeitzeugen an der Schule. »Wir haben die Gruppe der aktuellen Schüler, für die ist es ja so ähnlich wie aus dem Geschichtsbuch«, sagte Alt der Nachrichtenagentur dpa. »Wir müssen versuchen, da Leben einzuhauchen in diese Thematik und besonders die Opfer aus ihrer Anonymität rausholen, indem wir über sie erzählen.«

2. Auslaufende Pandemiemaßnahmen in den Bundesländern

Mehr als zwei Jahre leben wir nun schon mit Corona – und den Maßnahmen dagegen. An einigen Schulen wird weiter getestet, andere verzichten komplett darauf, und NRW verbietet seinen Schulen eine interne Maskenpflicht: Mein Kollege Armin Himmelrath hat zusammengefasst, wie die Lage in den Ländern ist.

3. Zwei Monate Krieg in der Ukraine

Die Ereignisse in der Ukraine belasten auch Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Die Schulpsychologin Viktoria Munk-Oppenhäuser hat meiner Kollegin Swantje Unterberg erklärt, wann Eltern eingreifen sollten und wie Lehrkräfte Flüchtlingskindern helfen können . Die Kinder sollten sich auch mit Gleichaltrigen austauschen können, die Ähnliches erlebt haben. »Der Schwerpunkt sollte darauf liegen: Was tut euch gut? Was braucht ihr jetzt? Und bestenfalls einfach normale Erlebnisse schaffen: rausgehen, spielen, halt das, was Kindern und Jugendlichen hilft«, sagt Munk-Oppenhäuser.

 

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Und sonst noch?

Die Bundesländer haben bereits einige Hundert Lehrkräfte mit ukrainischen Sprachkenntnissen eingestellt, darunter viele Geflüchtete. Auf Anfrage der »Welt am Sonntag«  teilte Bayern mit, 200 »Willkommenskräfte« engagiert zu haben. In Sachsen sind es 122. Berlin meldet 30, Hamburg 23, Schleswig-Holstein ebenfalls 23, Niedersachsen 15 und Sachsen-Anhalt 8.

Die Hamburger Ballettschule des Choreografen John Neumeier hat zehn ukrainische Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahren aufgenommen. »Das Tolle am Ballett ist, dass die Ballettsäle überall auf der Welt gleich aussehen und die Ballettsprache – Französisch – überall auf der Welt gleich ist«, sagte Gigi Hyatt, die pädagogische Leiterin der Ballettschule, dem »Hamburger Abendblatt«.

Zahl der Woche

60

Minuten sollten sich Kinder ab fünf Jahren täglich »moderat bis intensiv« bewegen. Das empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation. Warum Sportunterricht so wichtig fürs Lernen ist, hat die Sportwissenschaftlerin Tanja Postler meinem Kollegen Jonas Kraus verraten . »Wir haben herausgefunden, dass sich körperlich fitte Kinder besser konzentrieren können und sich dadurch in der Schule leichter tun«, sagt Postler. »Neben negativen gesundheitlichen, psychischen und sozialen Folgen kann Bewegungsmangel dazu führen, dass die kognitive Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird. Das Kind kann sich schlechter konzentrieren und muss dies mit noch mehr Lernzeit kompensieren.« Fitteren Kindern gelinge zudem häufiger der Sprung aufs Gymnasium.

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Debatte der Woche

Marcel Laskus hat den Amoklauf in Erfurt als Zwölfjähriger miterlebt. In dem Podcast 71 Schüsse  hat der Redakteur der »Süddeutschen Zeitung« verarbeitet, wie er den Tag erlebt hat.

SPIEGEL: Herr Laskus, wie blicken Sie auf den Gedenktag?

Laskus: Der Gedenktag war immer ein wichtiger Tag für die Schulgemeinschaft, gerade in den Jahren direkt nach der Tat. Dabei war dieser nie sonderlich groß inszeniert. Wir standen beisammen, die Namen der Toten wurden verlesen, ein Lied wurde gespielt, wir schwiegen miteinander. Diesmal wird es wegen der Zahl 20 sicher anders sein. Es werden vermutlich mehr Menschen zur Schule und zur Gedenktafel kommen als in den vergangenen Jahren. Und ich werde Gesichter sehen, die ich erst vor wenigen Wochen für meine Recherche getroffen habe. Mitschülerinnen, Mitschüler, die Schulleiterin, den Hausmeister und viele mehr.

SPIEGEL: Begehen Sie diesen Tag immer auf eine bestimmte Weise, gibt es ein Ritual?

Laskus: Als ich noch Schüler am Gutenberg-Gymnasium war und in den Jahren danach, vielleicht bis zum zehnten Jahrestag, war ich immer an der Schule. Das ist in den letzten Jahren weniger geworden. Der Tag verblasste eben. Manchmal fiel mir erst am 28. April auf: Ach ja, jetzt war wieder der Jahrestag.

SPIEGEL: Wie hat die Tat Ihr Leben beeinflusst?

Laskus: Es lässt sich schwer sagen, wie so eine Tat die Leben der Zeugen verändert. Der Raum, in dem ich damals saß, war der einzige in der dritten Etage, in den der Amokläufer hineingeschaut, aber nicht geschossen hat. Ich musste also nur Schüsse hören und keine Toten sehen, was die Verarbeitung sicher erleichtert hat. Ansonsten hat uns der Amoklauf vermutlich recht widersprüchlich geprägt: Ich habe danach weiter Egoshooter gespielt, wollte aber lieber Zivildienst leisten, als zum Bund zu gehen. Manche meiner Gesprächspartner sagten mir für diese Recherche, wir Gutenberger seien durch diese Tat empathischer geworden, achteten mehr auf Mitmenschen. Andere sagten, die Tat habe es schwerer gemacht, über schwierige Themen zu sprechen. Darüber habe ich für den Podcast auch mit einem Psychologen gesprochen, der damals das Konzept für unsere Schule erstellt hat.

SPIEGEL: Was war Ihr Antrieb, sich noch mal intensiv mit den Ereignissen auseinanderzusetzen?

Laskus: Meine Mitschüler und ich waren damals erst elf, zwölf Jahre alt. Kinder eben, die über Pokémon-Karten und Fußball reden, aber nicht über das Schulgesetz, das Waffenrecht und Traumata. Wir waren also relativ passiv, als all die Experten zu uns an die Schule kamen. Nun sind auch wir seit einer Weile erwachsen. Aus diesem Grund wollte ich mir diesen Tag noch einmal genau anschauen. Als Erwachsener. Wie wirkt der Tag bis heute? Was wurden damals für Fehler gemacht? Was hat sich gebessert? Und wer wartet noch immer auf Entschuldigungen?

SPIEGEL: Hat sich Ihr Blick auf die Geschehnisse dadurch verändert?

Laskus: Als ich mit der Recherche begonnen habe, hatte ich die Erwartung, dass viele Gesprächspartner abwinken würden. Weil es doch jetzt mal gut sei mit dem Amoklauf. Immerhin sind 20 Jahre vergangen. Aber so war es nicht. Die meisten, die ich fragte, wollten darüber sprechen, sie nahmen sich viel Zeit, und mir wurde schnell klar: Die Erinnerungen sind abgespeichert und jederzeit abrufbar. Besonders berührt hat mich das Gespräch mit dem Lehrer, der damals den Täter in einen Raum gesperrt hat und damit vermutlich noch mehr Tote verhindert hat. Er wurde als Held gefeiert, hätte beinahe das Bundesverdienstkreuz bekommen. Doch als – nie belegte – Zweifel an seiner Darstellung die Runde machten, verteufelte man ihn schnell, spuckte ihn sogar an.

Haben Sie ein Thema auf dem Herzen, das wir uns einmal genauer anschauen sollten? Dann schreiben Sie gern an bildung@spiegel.de  – das Team der »Kleinen Pause« dankt für Ihr Interesse!

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