11.08.2020 Das neue Schuljahr ist da – und alter Streit

In den ersten Bundesländern hat das neue Schuljahr begonnen und damit ein Praxistest: Wie viel Normalität ist nach den neuen Corona-Regeln möglich? Was bringt das, und wie gefährlich ist es?

Liebe Leserinnen, liebe Leser, guten Morgen, 

kein Mindestabstand im Klassenraum, keine reduzierten Lerngruppen, kein Unterricht im Schichtsystem: Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Berlin und Brandenburg sind als erste Bundesländer ins neue Schuljahr gestartet. Alles sollte - diese Hoffnung hatten die 16 Kultusminister im Juni geschürt – so normal wie möglich verlaufen. Im Klassenverband, mit voller Stundentafel. Klappt das?

Unser Eindruck nach den ersten Tagen: Lehrkräfte, Eltern, Schülerinnen und Schüler freuen sich riesig, dass endlich wieder geregelter Unterricht stattfindet – und wir freuen uns mit ihnen. Aber der Start verlief hier und da holprig, und von Normalität kann angesichts von Maskenpflicht und anderen Corona-Regeln keine Rede sein. Lehrerverbände und Virologen fordern sogar strengere Vorschriften. Die Debatte Bildung versus Gesundheitsschutz geht weiter ("Das ist los").

Manche Bildungspolitiker treibt vor allem um, wie sich der verpasste Lernstoff aufholen lässt. Vorstoß aus Brandenburg: Im Zweifel werden die Osterferien gestrichen. Doch dieser Vorschlag stößt, milde formuliert, auf wenig Verständnis ("Debatte der Woche").

Das Team von „Kleine Pause“ wünscht alles Gute
 
Susmita Arp, Silke Fokken, Armin Himmelrath 

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Das ist los

1. "Es wirkt ziemlich normal, aber…"

Einerseits soll das Recht auf Bildung im neuen Schuljahr endlich wieder umgesetzt werden, andererseits der Gesundheitsschutz gewahrt bleiben. In diesem Dilemma stecken alle 16 Kultusminister, konnten sich aber bisher nur grob auf eine gemeinsame Linie einigen: Unterricht im Klassenverband, bei voller Stundentafel. Es gilt das Prinzip fester Gruppen, die sich nicht mit anderen mischen sollen, um die Pandemie unter Kontrolle zu behalten. Weiteres regelt jedes einzelne Land für sich.

In Nordrhein-Westfalen, das an diesem Mittwoch ins neue Schuljahr startet, blieb Kultusministerin Yvonne Gebauer (FDP) ihrem Zickzackkurs in der Pandemie treu. Zuerst wollte sie auf eine Maskenpflicht im Unterricht verzichten, wenige Tage später überraschte sie Eltern- und Lehrerverbände mit der Ankündigung, diese solle doch gelten. Wir haben recherchiert, wie es zu der Kehrtwende kam, wie Pädagogen, Eltern und Lehrerverbände darüber denken und welche Vorschriften anderswo gelten.

In Hamburg, wo das neue Schuljahr am Donnerstag begonnen hat, herrscht an weiterführenden Schulen auf dem gesamten Gelände eine Maskenpflicht - außer im Klassenraum. Außerdem müssen Jahrgänge unter sich bleiben. Wir durften am ersten Schultag beobachten, warum der Schulalltag damit zwar "von außen ziemlich normal wirkt, aber leider nicht ist", wie ein Schulleiter sagt. Er fühlt sich angesichts der Corona-Einschränkungen "pädagogisch in die Steinzeit zurückversetzt". Hier finden Sie Text und Video.

2. Lehrerverband fordert strengere Hygienevorschriften

Kaum hatte das neue Schuljahr in Mecklenburg-Vorpommern begonnen, mussten zwei Schulen wieder schließen. Ein Kind und eine Lehrerin waren positiv auf das Coronavirus getestet worden. Kultusministerin Bettina Martin (SPD) teilte umgehend mit, sie sei wenig überrascht: "Wir haben von Anfang an gesagt, dass es Verdachtsfälle in den Schulen geben wird. Solange das Coronavirus noch nicht bekämpft ist und es keinen Impfstoff gibt, müssen wir damit rechnen." Auch Bettina Martin setzt auf das Prinzip fester Gruppen, um folgendes Szenario möglichst zu verhindern: dass Schulen wieder flächendeckend geschlossen werden müssen.

Davor graut es wohl fast allen Akteuren im Bildungsbereich. Dennoch wäre einigen etwas weniger Normalität und mehr Gesundheitsschutz lieber. Zu dieser Fraktion gehört Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Er forderte nach den Schulschließungen in Mecklenburg-Vorpommern schärfere Hygieneregeln an Schulen in ganz Deutschland. Wenn es nicht gelinge, bei vollständig geöffneten Schulen den Gesundheitsschutz hochzuhalten, müsse man wieder darüber nachdenken, in den Wechselbetrieb zwischen Präsenz- und Fernunterricht zurückzuschalten.

Wegen solcher Bemerkungen müssen sich Lehrerverbände inzwischen allerdings den Vorwurf gefallen lassen, sie seien an einem "Lehrer-Bashing" im Zuge der Pandemie nicht unschuldig. In einem provokanten Artikel schreibt Martin Spiewak in der "ZEIT", Lehrervertreter setzten sich "leidenschaftlich für Flüssigseife und Abstandsgebote ein. Das Recht der Schüler auf Bildung scheint sie kaum zu beschäftigen". Der Ton in den Kontroversen wird offenbar härter. Meine Kollegin Julia Merlot hat einen Kinderarzt gefragt, wie er über die Schulöffnungen denkt.

3. Was sonst noch war 

Im Schwarzwald spricht eine Drittklässlerin auf dem Schulhof mit ihrer Freundin wiederholt in ihrer Muttersprache Türkisch und muss deshalb eine Strafarbeit schreiben. Denn an der Schule gelte eine Deutschpflicht, so die Lehrerin. Die Eltern der Neunjährigen wehren sich und schalten einen Anwalt ein. Der Fall, den meine Kollegin Swantje Unterberg recherchiert hat, liegt inzwischen bei der Landesschulbehörde.

Er berührt eine Grundsatzfrage: Sollen und dürfen Kinder mit Migrationshintergrund dazu verpflichtet werden, in der Schule auch außerhalb des Unterrichts nur Deutsch zu sprechen? Seit Jahren wird darüber gestritten, auch jetzt gehen die Meinungen auseinander. "Laissez-faire auf dem Schulhof hilft nicht", heißt es in der "FAZ". Der "Tagesspiegel" dagegen kritisiert die Regel als "Integration von gestern".

Debatte der Woche

Siebeneinhalb Stunden pro Tag haben sich Deutschlands Schüler vor Corona mit dem Lernen beschäftigt. Während des monatelangen Schul-Shutdowns reduzierte sich diese Zeit auf die Hälfte. Das geht aus einer Elternbefragung des Ifo-Instituts hervor. Dieses Ergebnis liefert all denen ein willkommenes Argument, die darauf pochen, dass Schülerinnen und Schüler den in der Pandemie verpassten Lernstoff dringend nachholen müssen.

Brandenburgs Kultusministerin Britta Ernst (SPD) überlegt sogar, dafür in den Osterferien im kommenden Frühjahr verpflichtenden Präsenzunterricht anzubieten. Auch Lernangebote in den Herbstferien und Samstagsunterricht sind eine Option, je nachdem, was bei geplanten Tests in den kommenden Wochen in den Kernfächern herauskommt. In der SPIEGEL-Community löste der Vorstoß heftige Kritik aus:

"Ferien zu streichen ist in etwa so sinnvoll, wie die Nachtruhe zu streichen, damit Kinder 20 Stunden am Tag lernen können. Die Lernleistung wird ohne Erholungspausen geringer", warnt ein Nutzer.

"Die Kinder sind zu den Osterferien regelmäßig total kaputt. Und dann sollen die Ferien ausfallen? Das ist jetzt nicht besonders nah an den eigentlichen Bedürfnissen", findet ein Leser. Ein anderer: "Man kann nur mit dem Kopf schütteln. Sinnvoller wäre, den Stoffplan zu straffen."

"Noch 'eins obendrauf' für Lehrer geht gar nicht (und ich bin keine Lehrerin, kenne aber viele, die in der Zeit des Lockdowns mit viel viel Einsatz ihre Schüler und Schülerinnen auf kreativen Wegen beschult haben)", teilt eine Leserin mit.

SPIEGEL-Kolumnist Henrik Müller mahnt eindringlich, Bildungsakteure müssten angesichts der Pandemie und des verpassten Lernstoffs radikal umdenken, statt immer noch zu hoffen, schon bald zum Vor-Corona-Zustand zurückkehren zu können. "Es bleibt uns nichts anderes übrig, als mit der Seuche zu leben, zu arbeiten und, auch das, zu lernen", schreibt er. Aber: Auf diese "neue Normalität" sei das Bildungssystem noch überhaupt nicht eingestellt. Müller, gelernter Volkswirt, beschreibt, welche Folgekosten entstehen, wenn sich das nicht ändert.

Ideen, Anregungen, Feedback? Wir freuen uns über Post an kleinepause@newsletter.spiegel.de

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